Lasst sie doch bitte in Ruhe!

Sie erklomm mühselig und langsam den Gipfel und oben angekommen konnte sie endlich weit in die Ferne sehen. Es freute sie kaum, sie war richtig angefressen, dass sie sich von sich selbst und ihrem Ehrgeiz hat breitschlagen lassen und wirklich bis ganz nach oben zu gehen.
“Euda! Gott im Himmel! Kann das alles Ernst gemeint sein?! Bist du, seit ihr noch bei Sinnen? Wie kann es sein, dass sich Menschen, die sich lange nicht sahen, schließlich bei der täglichen Tinitusinfusion endlich wiedertreffen? Wie, um alles in der Welt, begreifen wir uns, wenn wir nicht begreifen, dass es Sinn macht mal das zu tun was uns beliebt. Nein, mehr noch, wie begreift sich eine Gesellschaft, die nicht mehr in der Lage ist zu spüren was ihr beliebt. Was ihr guttut? Was geht da ab, euda, wenn eine große Gruppe gebildeter Menschen in einem Land dafür eintritt, dass Kinder weniger freie Zeit vergeuden, sondern diese sinnvoller (also effizienter, leistungs- und ergebnisorientierter) verbringen sollen. Geplant von Eltern, die zitternd vorm Verlust ihrer bürgerlichen Position von einer Verführung in die nächste stolpern und sich immer mehr wundern warum sie müder, gereizter, und natürlich gestresster werden. Obwohl sie doch bewusst leben. (“Nicht einmal der Herr Sloterdijk konnte vor 30 Jahren ahnen, zu welcher stumpfsinnigen Floskel das von ihm geforderte bewusste Leben einmal werden würde”, dachte sie, ohne zu ahnen, dass “Er” alles hört – auch ihre Gedanken.) Die Respekt vor Ausländern  (mit denen sie nichts zu tun haben wollen) einfordern und Liebe zu den Tieren predigen und es nicht einmal schaffen ihre eigenen Kinder zu Lieben und zu Respektieren. Die sie nicht einfach als Menschen, als Niemand sehen können, sondern ihnen schon im Mutterbauch spüren lassen wie wichtig es sei, Jemand zu sein. Und noch wichtiger – Jemand zu werden. Statt sie einfach mal anglahnt zu lassen, müssen sie schon als denkunfähige Lebewesen gesund sein um Jemand zu sein. Damit ist das Fundament für spätere Wettbewerbsfähigkeit gelegt. Um diesem Fundament seine Unberechenbarkeit zu nehmen wird untersucht und  vorgebeugt, dass die Kassen nur so klingeln. Und wehe du weigerst dich, RABENMUTTER! Und dann wird erzogen und gebildet, dass die kleinen Lebewesen zwar größer werden, aber den Schritt zur Denkfähigkeit nicht mehr erreichen. Am Schluss sind sie zwar größer (als jemals zuvor), dafür aber auch kränker und blöder (als jemals zuvor).  “Macht nichts!”, sagen die Bildungsinstitutionen und höheren Studien, “wir müssen nur endlich die Studienzeiten kürzer! die Lehrpläne straffer! die Ziele konkreter! herrgott! Wir müssen die Bildung WIRTSCHAFTSNÄHER! gestalten und die Leute werdens schon packen. Sie werdens schaffen, sagen die Verführer, wenn sie nur brav sind. Wenn sie nur keine Umwege gehen. Wenn sie das Richtige tun. Wenn sie Vorsorgen. Wenn sie sich Ausbilden und Engagement zeigen. Wenn sie flexibel, also jederzeit erreichbar sind. Wenn sie Scheitern nicht dulden. Wenn sie an sich glauben. Wenn sie positiv denken. (Sie müssen nicht wissen, dass das Fremdwort, dass sie benutzen um diesen Zustand zu beschreiben nicht Positivismus ist, sie sind ja keine gschissenen Intellektuellen)
Wenn sie nicht lange Zögern. Wenn sie aktiv sind. Wenn sie konsequent ihre Ziele verfolgen. Wenn sie keine Fehler machen. Wenn sie keine Fragen stellen. Wenn sie funktionieren.
Und was tun die, die schon von Beginn an die Möglichkeit hätten sie vor den Verführern zu bewahren? Die scheissen sich an! Sie haben so eine gottverdammte Angst vor sich selbst, dass sie nicht einmal ihre Kinder sie selbst lassen können. Ihnen wurde so lange vor Krise, Krieg und Freiheit Angst gemacht, dass sie nun vor lauter Angst wie Flipperbälle durchs Leben geschossen werden. Und ihre Kinder dabei noch mitziehen. Anstatt von der Angst gelähmt zu sein, können sie nicht mehr aufhören sich zu bewegen. Eine ängstliche Flipperkugel?!? Das ist doch Paradox, das kann doch nicht sein. Dafür muss es doch einen psychologischen Befund geben. Das muss doch heilbar sein!”

(“Menschen voller Angst und in (selbst)diktierter Raserei?,” denkt sie sich während sie verschnauft und einen Schluck Wasser trinkt, “…vielleicht laufen sie einfach vor der Angst davon und entkommen ihr nicht und je schneller sie laufen, desto größer wird die Angst, weil  die Angstmacher immer lauter, der Schlaf immer gehaltloser, die Nerven immer dünner werden…)

“Und dann funktionieren eh alle irgendwie und geradehalt, die Eltern und die Kinder und dann nennen sie diese Arschlöcher auch noch Egoisten! Da reisst du dir als Eltern und Kind den Arsch auf und dann erklären sie dir auch noch du wärst ein Egoist! Wie soll denn ein Schatten ein Egoist sein, kannst du mir das mal erklären?!? Im hoffnunglosen Bestreben einer Flipperkugel, die hin- und hergeschossen wird zwischen Dröhnen und Blitzen, in ihrem hoffnunglosen Bestreben nicht runterzufallen soll sich ihr Egoismus manifestieren?!? Ihr seid ja nicht ganz dicht…

Sie setzt sich auf einen Stein und schaut erschöpft ins Tal. Nichts passiert. Sie wird ruhiger, spricht leise, aber klar.
“Die müssen sich doch irgendwann denken: “Scheiss drauf, euda!” Oder? Die müssen sich doch irgendwann alle in Ruhe lassen können… Ja. Lasst euch doch endlich gegenseitig in Ruhe. Lasst doch bitte die Kinder wach werden und stürmt nicht gleich auf sie ein, wenn sie beim Aufwachen den ersten Ton von sich geben. Lasst sie in Ruhe, wenn sie gerade das tun, was ihr von ihnen erwartet und lasst sie in Ruh wenn sie es nicht tun. Und ihr Heranwachsenden – gönnt dasselbe endlich auch euren Erziehern, egal wer es ist. Lasst die Arbeitslosen in Ruhe wenn sie sich was Neues Aufbauen. Lasst Asylwerber in Ruhe wenn sie wieder beginnen wollen zu leben. Lasst die Gläubigen in Ruhe wenn sie glauben wollen.
Und lass dich ganz zu Beginn einfach mal euch selbst in Ruhe. Interessier dich nicht für das, was dir ständig vorgeschrieben, vorgelesen, vorgespielt, vorgepostet und erzählt wird. Interessier dich doch bitte nicht ständig für den ganzen Scheiss. Lass dich in Ruhe mit den Floskeln die du glaubst, dass sie dir nützen. Lass dich in Ruhe mit den Meinungen, die du glaubst haben zu müssen. Lass dich in Ruhe mit den Reisen, die du machen sollst, mit den Weiterbildungen, die man dir einredet,  mit den Abschlüssen, von denen man dir so viel verspricht und der verdammten Auszeit, die du dir “dringend nehmen solltest”. Lass dich in Ruhe mit der Musik die du hören sollst, mit den Filmen die du sehen und den Büchern die du lesen sollst. Lass dich in Ruh mit den wenigen Erwartungen die manche an dich stellen, und den Unzähligen, die du selbst von dir und deinem Leben hast. Lass dich in Ruh mit deiner beschissenen Angst.”

Sie sprach seit geraumer Zeit nur noch leise zu sich selbst, vor und zurück wippend, eingegraben in ihren eigenen Gedanken. Sie war nicht erschrocken oder überrascht als plötzlich einer jener älteren Herren, die aussehen wie 70jährige 40jährige, neben ihr auftauchte. Nur in Radlerhosen und einem Unterleiberl gekleidet, grüßte er kurz, schnaufte einmal laut und begann seinen Apfel zu essen, den er als Wegzehrung während seines rekordverdächtigen Aufstiegs in der rechten Hand bergauf getragen hatte. Sie grüßte klar zurück und wandte ihre Blicke wieder dem Tal zu.

“Leicht wird es nicht. Leicht wird es nicht, wenn ich langsam wieder Ruhe habe. Leicht wird es nicht, wenn ich wieder Anfange zu denken. Wenn ich wieder anfange zu Denken und nicht wehmütig werden soll… aber vielleicht lass ich mich einfach in Ruh mit der Wehmut und machs trotzdem. Vielleicht probier ich einfach mal Freiheit. Und Mut. Und Scheitern. Ein bisschen gutes Leben…”

Sie grinste und stand auf. Sie betrachtete den Mann neben ihr, der keine Anstalten machte zu gehen, sondern einfach ins Tal stierte. Sie verabschiedete sich und ging grinsend in die andere Richtung fort. Während des Gehens begann sie wieder zu deklamieren:
“Ha! Ihr werdet euch noch anschauen, ihr großkopferten Gscheidhosen. Ihr werdet euch noch wundern, wenn die Leute auf ihr bewusstes Leben scheissen und dafür wieder bei Bewusstsein sind. Ihr werdet euch noch anschauen! Wenn die Leute in der Früh aufstehen, in den Spiegel grinsen und einen Menschen sehen!”

Nachtrag:
Kurz nachdem sie den letzten Satz triumphierend ausgerufen hatte, böckelte sie um und stürzte die steile Böschung hinuter. Sie kullerte über den Fels, schlug sich ihre Glieder auf und stürzte zuletzt noch einen Abhang hinunter. Zerschunden und blutig, aber nicht ohnmächtig, erholte sie sich vom ersten Schock und schaffte es ihr Handy aus der Tasche zu kramen. Wie durch ein Wunder hatte sie Empfang hier oben und vorsichtig wie sie war, hatte sie auch die Nummer der Bergrettung eingespeichert.
Beim Hochegger Toni klingelte das Telefon, während er Richtung Klamm marschierte. Er wollte Schneeroserl für das Grab seines Großvaters pflücken und ärgerte sich über die lästige Störung in freier Natur, der er sich als Bergretter aber aussetzen musste. Ob er nicht gerade am Berg sei, wurde er gefragt, denn gerade ist ein Notruf eingetroffen und es sei Gefahr im Verzug.
Der Toni kannte die Stelle, die ihm beschrieben wurde und tatsächlich war er gar nicht weit entfernt. Er beschleunigte seinen Schritt und sehr bald glaubte er sich nahe der Unfallstelle und tat einen ordentlichen Juchiza um auf sich aufmerksam zu machen. Er hörte den leisen Ruf der Verunglückten und preschte vor. Glücklicherweise hatte er ein Seil mit, schließlich wollte er in den Wänden des Berges klettern gehen. Er befestigte es sicher an einer der unzähligen Latschen entlang des Weges und begann die Böschung und schließlich den Abhang hinunterzuklettern. Unten angekommen trafen sich die Blicke der Wanderin und des Bergretters. Toni erstarrte als er das zerschundene Gesicht der Fiachtgrabnerin sah, deren Augen trotz ihres Sturzes klar und stark waren. Schon einmal hatten sich beim letzten Bierzelt ihre Augen getroffen, doch damals wollten sie noch nicht glauben was in diesem Moment Gewissheit wurde. Erst langsam besann sich der Hochegger Toni und begann sich um die Fiachtgrabnerin zu kümmern und sie für die Bergung zu sichern. Immer wieder sahen sich die beiden Liebenden tief in die Augen, doch nie konnten sie die seit Generationen andauernde Fede und den Hass zwischen ihren Eltern ganz ausblenden. Wenn das nur gutgeht…

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